Liebe Brieffreunde,
kommt, Kinder, kommt und setzt euch an den Kamin. Hört dem alten Onkel Marcel wieder mal dabei zu, wie er über Digitalen Minimalismus faselt. Sitzen alle? Gemütlich genug? Los gehts!
Nachdem ich jetzt fast zwei Jahre kein Social Media benutzte, stoße ich dann doch langsam an die Grenzen der Skalierbarkeit dieses Lebens. Ganz entgegen meiner Meinung von vor drei Jahren liegt das nicht daran, dass ich nicht mehr genug von der Welt mitbekomme, im Gegenteil.
Die Welt bekommt nicht mehr genug von mir mit.
Klingt ein bisschen egozentrisch, oder? Ist es auch.
Mein persönlicher Messias Cal Newport hat mir mit Deep Work und Digital Minimalism erfolgreich eingebläut, dass Timelines schlecht für mich sind. Ich empfand das schon lange unbewusst als intensive Lebensrealität, wollte es aber nicht wahrhaben. Man braucht keine Dopamin-Junkie-Refreshs, um informiert zu sein.
Was man ironischerweise tatsächlich manchmal braucht, ist, dass andere über einen informiert sind. Newport behandelt das Thema zwar in seinen Büchern, aber als ich sie las, war ich so damit beschäftigt, den Druck der sozialen Medien aus meinem Leben loswerden zu wollen, dass ich diesem Teil keine größere Beachtung schenkte.
Jetzt, wo ich mir selbst bewiesen habe, dass ich nicht auf Social Media angewiesen bin und mich genug ausprobierte, um zu wissen, dass Timelines mich nur noch in der Theorie reizen, ihr Suchtfaktor mich in der Praxis allerdings abstößt, habe ich wieder freie mentale Kapazitäten um darüber nachzudenken, was meine nächsten Schritte sind.
Die Wahrheit, dass wir in einer digitalisierten Gesellschaft leben, ist unumstößlich. Social Media wird nie wieder keine Rolle spielen. Ob wir uns durch Timelines scrollen oder im Metaverse mit einer Feder, die wir von einem mit Pfeil und Bogen erlegten Polygon-Fasans pflückten, Briefe schreiben, die wir anderen Avataren in den digitalen Hosenbund stecken, spielt keine Rolle.
Zu denken, dass man sich vollends in die Versenkung begeben könne und daraus keine negativen Nebenwirkungen entstünden, wäre naiv. Was mich in den letzten Monaten also umtrieb, war die Frage danach, wie diese Nebenwirkungen für mich tatsächlich Gestalt annehmen. Konsum spielt keine Rolle. Nichts für ungut an alle, aber ich kann auf halb gare Meinungen und reaktionäre Hot-Takes verzichten. Die verstopfen nur den Kopf und bringen herzlich wenig Tiefe.
Produktion ist allerdings ein anderes Thema. Ich weiß, dass es viele Leute geben kann, die an meiner folgenden Argumentation anecken werden, aber bear with me, Freunde:
Die meisten Menschen werden niemals bei der Erkenntnis ankommen, dass der ständige und regelmäßige Konsum von Social Media Timelines mehr schadet als nützt. Ich gebe mein Bestes, das zu ändern, aber realistischerweise werde ich keinen relevanten Einfluss darauf haben. Das wird mich in eine Situation bringen, in der ich in der Versenkung bin, während alle unversenkten Product Designer sichtbarer bleiben und berufliche Vorteile daraus ziehen.
Ich kam also zum Entschluss, dass ich produzieren, aber nicht konsumieren werde. Ich werde in Social Media sichtbar sein, während ich stark darauf erpicht bin, keinen der aus Konsum resultierenden Nachteile in mein Leben zu lassen.
Das bringt ein paar Tücken mit sich, schließlich kostet über guten Content nachzudenken und ihn zu produzieren Kraft, die man anderweitig einsetzen kann. Wie Newport aber in Digital Minimalismbeschreibt, kann es sich dabei schlicht um eine Aufgabe an einem Tag handeln, die man abarbeitet und dann damit abgeschlossen hat. Wenn man Sichtbarkeit in Social Media nicht mehr als Standardzustand versteht, der ständig als Background-Task im eigenen Hinterkopf läuft, sondern sich regelmäßig aktiv Gedanken dazu macht, was man posten sollte, minimiert man den negativen Einfluss, den diese Plattformen haben. Man nutzt Social Media als Tool und wird nicht mehr von Social Media genutzt.
Das klingt alles sehr kalkuliert und unpersönlich, machen wir uns doch weiterhin alle vor, dass jede Person auf Social Media total authentisch ist. Ich sehe das. Allerdings bin ich auch fest davon überzeugt, dass alle Menschen selbst für ihr Wohl mitverantwortlich sind und niemand negative Einflüsse akzeptieren sollte, weil der Versuch sie loszuwerden auch Nachteile mit sich bringt. (Mehr dazu in Unehrlichkeit skaliert nicht.)
Meine Aktivität in sozialen Medien (aktuell nur meine OG-Liebe Twitter) ist hiermit also wieder aufgenommen. Die Brand ist "guter deutscher Product Designer mit Humor" und meine Inhalte sind noch nicht definiert, aber irgendwelche Gedanken zu Design habe ich immer. Mit den tief hängenden Früchten kann man da auf Twitter schon genug Sichtbarkeit erzeugen, um nicht völlig vergessen zu werden.
Daddy-Newport wäre stolz auf mich. Die ersten Experimente haben bereits positive Ergebnisse nach sich gezogen, was mich in meiner Annahme bestärkt, dass totale Versenkung auch schädlich sein kann.
Grüße aus der teilweisen Versenkung
Marcel