Liebe Brieffreunde,
weil ich ein Mensch bin, der über sich gelernt hat, dass er am besten funktioniert, wenn durchdachte und definierte Systeme die Grundpfeiler seines Lebens ausmachen, habe ich mir in den letzten Jahren das System der Objektiven Wahrheiten ausgearbeitet.
Objektive Wahrheiten sind Pfeiler des Lebens, an denen man nicht mehr rütteln muss. Dadurch entsteht ein klares ethisches Regelwerk für die komplizierten Situationen des Lebens, an dem man sich orientieren kann. Das Ziel ist, in schwierigen Momenten nicht spontan entscheiden zu müssen, was man für eine Person sein möchte.
Hier ist eine sehr grundlegende objektive Wahrheit für mich:
Unehrlichkeit skaliert nicht.
Weil ich das verinnerlicht habe und mich selbst als ehrlichen Menschen betrachte, verhalte ich mich entsprechend, wenn ich in Situationen komme, in denen Lügen oder das Verschweigen von Dingen die vermeintlich leichteste Lösung wären.
Ein Schritt auf dem Weg zur Akzeptanz dieser Objektiven Wahrheit ist, dass man der Tatsache ins Auge blicken muss, dass Unehrlichkeit, egal in welcher Form, statistisch nicht häufiger zu guten Ergebnissen führt als Ehrlichkeit. Jede Unehrlichkeit und jedes Verschweigen einer unangenehmen Wahrheit erzeugen einen Baustein der instabilen Pyramide des verlagerten Unglücks. Je mehr dieser Bausteine angesammelt werden, desto wackeliger wird diese Pyramide. Irgendwann stürzt sie zusammen. Lügen skalieren nicht. Nie.
Irgendein:e Soziopath:in könnte das jetzt lesen und stolz denken, dass sie eine ganz tolle Hecht:in ist und ihre erfolgreichen Unwahrheiten diese Objektive Wahrheit widerlegen. Ich streite nicht ab, dass man sehr erfolgreich lügen und verheimlichen kann. Das ist sogar vergleichbar leicht. Allerdings glaube ich nicht, dass man wirklich glücklich sein kann, wenn man von sich selbst weiß, dass man ständig die Wahrheit zu seinem eigenen Vorteil beugt.
Selbstrespekt entsteht durch robustes ethisches Verhalten. Zu versuchen, das System auszutricksen, endet darin, dass man sich – mein Lieblingssprichwort derzeit – selbst ein Ei legt. Unehrlich sein macht einen zu einem unehrlichen Menschen, und wenn man in einem Anflug erfolgreicher Selbstreflexion an diese Tatsache stoßen sollte, kann man nicht besonders glücklich mit dem Ergebnis sein.
Ein paar Beispiele für den Einsatz dieser Objektiven Wahrheit:
Emotionen gehören kommuniziert. Egal, ob man jemanden sehr mag oder sich eingesteht, dass eine Person in einem nur schlechte Gefühle weckt, Glück entsteht, indem man zu sich – und dem Gegenüber – ehrlich ist. Das erfordert Mut und die Bereitschaft potenziell negativen Ergebnissen ins Auge zu blicken, keine Frage.
Obwohl man sein:e Partner:in mag, braucht man manchmal ein bisschen Zeit für sich, hat aber Angst, dass sie sich vor den Kopf gestoßen fühlt, wenn man es ausspricht? Man spricht es aus, weil man versteht, dass Ehrlichkeit zu einem guten Miteinander führt und sich verstellen schlecht ist. Wenn die Partner:in diese Wahrheit nicht akzeptiert, ist sie offenbar keine gute Ergänzung für das eigene Leben. Wenn es wahr ist, dass man manchmal Zeit für sich braucht, wird sich das nicht ändern, weil das jemand anderes nicht akzeptieren will.
Man hat sich verabredet, merkt aber am Tag der Verabredung, dass man gar keine Lust, aber keinen externen Grund hat, der als solide Ausrede gelten könnte? Man spricht einfach aus, dass man gerade keine Lust hat, entschuldigt sich und macht einen neuen Termin ab. Wahre Freunde verstehen, dass es einem manchmal so gehen kann und sind empathisch. Leute, die sich bei so was (wenn es in gesundem Maße auftritt) auf den Schlips getreten fühlen, sind vielleicht keine guten Freunde.
Ich bin nach Jahren des Experimentierens felsenfest davon überzeugt, dass diese Objektive Wahrheit eines der wichtigsten Werkzeuge zu einem glücklichen Leben ist. Man muss nur ehrlich genug sein.
Auch zu sich selbst.
Das ist am schwierigsten.
Zu akzeptieren, dass aus Wahrheiten entstehende Konsequenzen immer gut sein müssen, ist kontraintuitiv.
Wenn man zu sich selbst ehrlich ist und sich eingesteht, dass man nicht schlecht behandelt werden möchte, beendet man den Kontakt zum toxischen Familienmitglied. Wenn man weiß, dass Freundschaften ein Geben und Nehmen sind, trifft man die Person nicht mehr, die immer nur von sich selbst redet. Wenn man auf eine eigene Verhaltensweise stößt, die einem nicht gefällt, beißt man in den sauren Apfel und akzeptiert, dass man an der Stelle aktuell noch ein bisschen scheiße ist.
Das sind alles Momente, in denen man auf den ersten Blick etwas verliert. Familienmitglieder, Freunde, Selbstrespekt. Was man hingegen an Freiheit, Ruhe und Möglichkeit der Verbesserung gewinnt, wiegt diesen Verlust um ein Vielfaches auf.
Ehrlichkeiten entfernen Limbo-Zustände, Wischi-Waschi-Situationen, nicht zu wissen woran man ist. All diese frustrierenden Momente, in denen Unsicherheit einen von Glück abhält.
Ich habe, wenn es gut läuft, nur rund 80 Jahre auf diesem Planeten. Das ist nicht genug Zeit, um auf den Bausteinen der wackligen Pyramide des verlagerten Unglücks zu balancieren.
Ehrliche Grüße
Marcel