Optimistischer Nihilismus & Badminton
In der Versenkung hat Sport eine völlig neue Rolle in meinem Leben gefunden.
Hallo Brieffreunde,
als ich letztes Wochenende nur in einer Unterhose bekleidet in einer nach Zigarettenrauch stinkenden Umkleidekabine einer Badmintonhalle am Rande von Berlin stand, hasste ich — zu meiner eigenen Überraschung — mein Leben nicht.
Dann musste ich an Think Again von Adam Grant denken, das ich kürzlich las und mir gut erklärte, warum mich meine aktuelle Situation nicht auf dem Level frustriert, das meine Gewohnheit erwartete: Meine Identität hat sich verändert. Ich bin nicht mehr der unsportliche Nerd von vor einigen Jahren, sondern jemand, der sich jeden Tag für eine Stunde aufrafft, um seinen Work-out hinter sich zu bringen.
Vor sechs Jahren hätte ich einiges an Geld gewettet, dass ich in diesem Leben nicht mehr Freude an Sport finden werde. Ein erster Besuch im Fitnessstudio und einige Jahre regelmäßigen Work-out-Sessions später ist ein Samstagnachmittag mit einer Verabredung zum Badminton in meinem Leben plötzlich eine positive Sache, statt einer Albtraumvorstellung.
Adam Grant beschreibt in Think Again, wie wir uns so sehr an die vermeintlich basale Wahrheit unserer Identität klammern, dass gar nicht in Betracht gezogen wird, dass sie änderbar ist. Neue Informationen werden im Vorfeld abgeblockt, weil sie als direkter Angriff auf die eigene Existenz gewertet werden. „So bin ich halt“ ist die perfekte Ausrede für jede Form von persönlichem Wachstum.
Mein erster Besuch in einem Fitnessstudio, der jetzt schon einige Jahre her ist, passierte mit flauem Magen und nach einem Vormittag, den ich in erster Linie auf der Toilette verbracht habe. (Meine Verdauung wird etwas überengagiert, wenn ich vor etwas aufgeregt bin. #tmi) Das zeigt gut, wie schwierig und sogar körperlich anstrengend das Ändern der eigenen Identität ist. Man muss sich wortwörtlich selbst attackieren.
Mein Verhältnis zu Sport ist weiterhin ambivalent. Aktiv Spaß habe ich an meinem täglichen Sportprogramm nicht. Attacken auf sich selbst sind aber okay, wenn man versteht, dass delayed gratification einem in die Karten spielt. Sport macht mir während des Work-outs nur selten Spaß, aber die Ergebnisse an meinem Körper zu sehen und in der Lage zu sein, einen Badminton-Nachmittag in einer Sporthalle oder einen vierstündigen Trip auf Inlinern (Einer der besseren Käufe der Pandemie) als kurzweilige Unterhaltung statt Albtraum zu betrachten, gleichen das aus.
Manchmal muss man akzeptieren, dass weniger mehr ist und seine Fenster so putzen, dass etwaige Familienmitglieder enttäuscht den Kopf schütteln würden. Resultiert in weniger Arbeit und mehr Glück. Auf der anderen Seite muss man sich manchmal selbst attackieren. Resultiert in viel mehr Arbeit aber eben noch mehr Glück.
Was ich sagen will: Es ist kompliziert. Aber immerhin hat man die meisten Sachen selbst in der Hand. Die eigene Identität ist nicht etwas, das man hat und damit leben muss. Man kann sie betrachten, bewerten und formen. Das ist anstrengend und man wird auch schnell merken, wer einem mehr Glück im Leben gönnt und wer einen zurückhalten möchte, aber am Ende jedes Level-Ups liegt etwas mehr Zufriedenheit mit der eigenen Existenz.
Habt ihr Erfahrungen mit Leuten gemacht, die ihre Identität in Angriff sahen und daher an fragwürdigen Ansichten festhielten? Ging es euch vielleicht sogar selbst so? Ich bin ganz Ohr!
Verschwitzte Grüße
Marcel
Lesezirkeltraining
Als die Harry Potter Bücher damals rauskamen, wollte ich sie nicht lesen, weil — und das ist der dümmste Grund für alles — alle anderen sie so mochten. Möchtegern-Rebell, der ich war, wollte ich mit diesem Mainstream-Mist nichts am Hut haben. Dann wurde ich halb zum Lesen genötigt, indem man mir einfach das erste Buch schenkte und ich liebte es. Von „Harry Potter ist Schund für Leute ohne Ahnung“ als Meinung, die auf nichts außer Ego basierte, zu „Das ist eine der besten Buchserien jemals“ innerhalb von 50 Seiten. Damals war ich 11. Über 20 Jahre später erinnere ich mich noch immer regelmäßig an diese erste, wirklich sehr falsche Meinung, sobald ich gegen etwas bin, aber mir nicht so wirklich gut begründen kann, warum meine Antipathie Sinn ergibt.
Gerade lese ich mich das erste Mal seit meiner Jugend durch die Harry Potter Reihe und genieße jede Sekunde davon sehr. Rowlings Worldbuilding schafft es, dass ich auch fünfzehn Jahre später noch stark das Bedürfnis empfinde, in dieser Welt leben zu wollen. Es ist auch meine erste Runde auf Englisch und kann jetzt erst all die fantastischen Wortspiele wertschätzen. The Knight Bus! Köstlich! (Relevant)
Harry Potter and the Goblet of Fire wurde gerade beendet, mein Zwischendurchbuch ebenfalls und ich kann The Order of the Phoenix kaum erwarten. In meiner Erinnerung mochte ich diesen Teil am wenigsten, aber ich kann mir vorstellen, dass sich das mit voranschreitendem Alter geändert hat. Ich werde berichten.
Videothek (bitte mit englischem „th“ aussprechen)
Es ist leicht, darüber zu reden, dass man einfach mal schnell seine Identität ändern soll, wenn man im Alltag dazu tendiert, etwas zu fokussiert auf das hier und jetzt und eine ausgedachte Version der Zukunft ist, die auf jeden Fall eintreffen wird. Mir hilft rauszuzoomen.
Optimistischer Nihilismus bildet ungefähr 70 % meiner persönlichen Philosophie ab. Der Rest wird von Stoizismus gefüllt. Es sind beides Elemente der gleichen Ansicht ans Leben: Es ist schnell vorbei und wenn man nicht daran arbeitet, dass man es genießen kann, hat niemand gewonnen. Sich selbst im Kontext kosmischer Ausmaße zu betrachten ist ein hervorragender Anfang, um die eigene Unwichtigkeit und daraus resultierende schier endlose Menge an fantastischen Möglichkeiten zu sehen, die das für einen bedeutet.
Reaktionen aus dem Brieffreundeskreis
Brieffreundin Anja schreibt:
Ich finde die Ansprache „ihr“ aus dem Grund viel schöner, weil er mich mehr als Teil einer Gruppe fühlen lässt. Mag den Gedanken, dass ich zu einer handvoll Menschen (wenn auch eine sehr große Hand mit abnormal vielen Fingern) gehöre, die diesen Brief liest. Deshalb +1 für „ihr“!
Anja hat recht. Der letzte Brief war dahingehend ein Experiment, das mich selbst nicht ganz überzeugte. Ines hat es gut auf den Punkt gebracht:
Ich mag den Newsletter! Ich hab mich nur gefragt warum du in einer Tonalität schreibst, die ich sonst nur von selbstgeschulten Lifecoaches kenne?
Jetzt seid ihr also „ihr“. Das sollte sich — so rein evolutionär — gut anfühlen. Wenn ein Säbelzahntiger euch zeitnah angreifen wird, wisst ihr, dass ihr nicht allein seid und die anderen fünf Empfänger dieses Briefes euch theoretisch helfen könnten.
Ganz unabhängig davon hat Carsten, in seiner Antwort auf meinen letzten Brief, Optimistischen Nihilismus aus Versehen perfekt zusammengefasst:
Für mich das schönste am Erwachsensein - ich kann machen was ich verdammtnochmal will.
Was bisher geschah
Für den Fall, dass ihr erst gerade Brieffreunde geworden seid, ist hier noch mal der erste Brief aus der Versenkung: