Schaltjahre sind mitgemeint
Wie eine Fensterputz-Epiphanie in mir überraschend viele Emotionen auslöste.
Hallo,
letztens habe ich meine Fenster geputzt. Du wirst das kennen, eine Aufgabe, die man alle Jubeljahre in einem Anflug von „Jetzt bekomme ich mein Leben in den Griff“ auf sich nimmt, sich danach aber genau so wie vorher fühlt. Danach kann man aber immerhin klarer sehen, dass der Sommer sich langsam dem Ende zuneigt und man sich mental auf den schlimmsten Teil des Jahres vorbereiten sollte.
Beim Putzen schüttelte ich dieses Mal eine der letzten verbleibenden nicht hinterfragten Ansichten ab, die ich aus meiner Kindheit und Jugend mitnahm. Das ganze kam für mich sehr überraschend und erzeugte stärkere Emotionen, als ich vom Fensterputzen erwartet hätte. Eigentlich hatte ich nicht vor mehr als “Ugh” zu spüren.
Um dir zu erklären, warum dieser Moment in irgendeiner Form Relevanz hatte, muss ich allerdings etwas weiter ausholen:
Dass mir eine abschüttelnswerte Ansicht auffällt, war nicht so überraschend, weil es für mich ungewöhnlich wäre, dass ich Dinge aus meiner Jugend kritisch hinterfrage und verändere, im Gegenteil. Eigentlich verbrachte ich die letzten acht Jahre intensiv damit, den mentalen Ballast abzulegen, den gewisse zurückliegende Lebenssituationen mit sich brachten. Wir sind hier unter uns, also erlaube ich mir ein kleines Eigenlob: Ich war ziemlich erfolgreich. Besonders bei den großen Themen des Lebens habe ich so viel an mir gearbeitet, dass ich nur noch selten in Momente gerate, an denen ich mich nicht so verhalte, wie ich es für ethisch und logisch angemessen erachte.
Da ich in meiner DYI-Therapie sehr darauf erpicht bin, keinen Stein unumgedreht zu lassen, freue ich mich über jeden neuen Moment, in dem mir vor Augen geführt wird, dass mein Verhalten objektiv falsch ist. Für mich lag der Wert dieser Fensterputz-Epiphanie also nicht in der Tiefe der Erkenntnis, sondern in der Tatsache, dass ich mich wieder mal in einer Situation gefunden habe, in der ich meine eigenen Regeln erfinden darf, statt Gelerntes unhinterfragt nachzuleben.
Jetzt erwartest du sicher trotz meiner vorsichtigen Relativierung, dass sich dieser Durchbruch als Lifehack enttarnt, der dein Leben für immer verändern wird. Leider nein. Stattdessen biete ich diesen: Man wäscht Socken am besten, indem man gleiche Paare schon vor der Beförderung in den Wäschekorb in sich zusammenrollt, damit sie gemeinsam gewaschen werden. Nach ihrem Ausflug in die Waschmaschine kann man sie dann ohne Sortierung nebeneinander aufhängen. Nimm dir gerne ein paar Minuten, um darüber hinwegzukommen, dass du seit Jahren deine Socken falsch gewaschen hast und lies danach weiter. Ich habe Verständnis.
Jetzt aber meine tatsächliche Fensterputzfeststellung: Ich muss mir keine große Mühe geben. Mir sind saubere Fenster offenbar nicht besonders wichtig, was gut daran zu erkennen ist, dass ich diese Aufgabe an 364 Tagen des Jahres nicht mal annähernd in Betracht ziehe. (Schaltjahre sind mitgemeint.) Mein Selbstwert ist nicht an Fenstersauberkeit gekoppelt, niemand in meinem Leben interessiert sich für die Schlierenfreiheit meiner Scheiben und wäre es jemandem sehr wichtig, wäre mir nicht wichtig, dass es dieser Person wichtig ist. Obwohl es mir manchmal Freude bereitet, dass ich etwas besser rausschauen kann, bin ich nicht bereit, regelmäßig zwei Stunden zu investieren, um ein perfektes Ergebnis zu produzieren.
Das Verhältnis von Wichtigkeit und Fenstersauberkeitsqualität wurde mir in meiner Jugend völlig anders vorgelebt und ich scheine es unterbewusst aufgegriffen zu haben. Entgegen allem, was mir eigentlich wichtig ist, habe ich bisher immer gedacht, dass Fenster richtig geputzt werden müssen. Viele Schritte, viel Sorgfalt, viel Zeitaufwand und viel daraus resultierendes Gefühl des gescheiten Erwachsenseins.
Ich wischte also außen über den Schmutz, zog jedes Fenster mit so einem Wischer trocken und innen habe ich nur über die Stellen gewischt, an denen die Katzen mit ihren kleinen Nasen Abdrücke hinterlassen haben. Damit erklärte ich meine jährliche Qual für beendet. Die aufgewendete Zeit wurde dadurch mehr als halbiert, was die daraus resultierende Lebensfreude durch saubere Fenster in eine gesunde Relation rückt.
So profan es auch klingen mag, dass mein großer Gedanke „Ich kann auch einen schlechteren Job machen“ war, so sehr freute mich dieser Durchbruch auf der Meta-Ebene des kritischen Hinterfragens von dem, was man unterbewusst annimmt. Mein Denken zu durchdenken gibt mir mehr das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben, als ständig saubere Fenster es jemals könnten.
Na ja! Danke fürs Lesen! Hast du in letzter Zeit irgendwas kritisch hinterfragt und daraufhin verändert? Ich bin unironisch interessiert!
Schlierenvolle Grüße und bis bald
Marcel