Kollektive Vernunftsverantwortung
Am Buch Snow Crash von Neal Stephenson überraschte mich am meisten, dass es ein Buch über Linguistik und Anthropologie ist und mit dem Metaverse wenig zu tun hat.
Das soll hier gar keine Buchreview werden, darum nur kurz zusammengefasst: Snow Crash behandelt unter anderem Viren, die über Sprache weitergegeben werden und in der Vergangenheit sogar in der Lage waren, ganze Zivilisationen zu stürzen.
Das klingt für Leute innerhalb einer Pandemie erst mal wie eine schlechte Metapher für einen echten biologischen Virus. Seit ich allerdings das Verschwörungserzähler- und Querdenker-Phänomen unter der Sichtweise eines sprachlichen Virus betrachte, fallen mir einige ganz interessante Parallelen zum Buch und zu Viren generell auf.
Verschwörungserzählungen und Fake News sind nichts anderes als sprachliche Viren, die über Gespräche, Memes, Videos und Chatnachrichten übertragen werden. In Kombination mit fehlgeleiteter Synapsenkraft setzen sie sich in Köpfen von anfälligen Menschen fest und müssen danach aufwendig geheilt werden.
Sie mutieren, verändern sich und haben Varianten. Das grundsätzliche Verhalten ist aber immer gleich: Angesteckte tragen das Virus weiter, indem sie die immer gleichen Argumente, Worthülsen und nicht hinterfragten Phrasen von sich lassen. Jede dieser Personen hat die gleichen zwölf aufgeschnappten "Argumente" und wiederholt sie voller Inbrunst so lange, bis etwaige Gesprächspartner entweder angesteckt sind oder sich abwenden. Das Husten, Niesen und Flüssigkeit absondern der oralen Viren.
Warum ist das relevant? Weil mir auffällt, dass vermehrt Wortklauberei betrieben wird. Im öffentlichen Dialog über das Problem wird fälschlicherweise zwischen Querdenkern und Leuten unterschieden, die "nur" irgendwie die falschen Informationen aufgeschnappt haben.
Hier ist meine These: Es gibt keinen Unterschied.
Verschwörungserzähler:innen, Querdenker:innen und fehlinformierte Leute sind Menschen, die von einem gedanklichen Virus infiziert wurden und sie alle sind ansteckend.
Jede Person ist selbst dafür verantwortlich, sich angemessen zu verhalten. Jede Person, die das nicht tut, ist von Personen, die es besser wissen und daher eine Verantwortung für alle anderen tragen, für ihr Verhalten zu kritisieren.
Wenn jemand herumrennt und Irrsinn von sich lässt, hilft haarspalterisches Einteilen in fiktiven Schubladen nicht dabei, das Problem zu lösen. Im Gegenteil. Es lässt das Problem als komplexer erscheinen, als es wirklich ist. Nur weil eine verschwörungsgläubige Person die Mutter von jemandem ist, bedeutet das nicht, dass diese Person keine Querdenker:in sein kann.
Emotionen verändern nicht Realität.
Gesellschaftlich erzeugen wir gerade eine fiktive Gruppe "böserer" Fehlinformierter, die wir gesondert betrachten wollen. Das halte ich für Unsinn. Jede Person, die grob diesem Spektrum zugeordnet werden kann, läuft Gefahr weiter in diesen Abgrund abzurutschen und gleichzeitig andere anzustecken.
Unsere Aufgabe ist, dass wir diese Leute abfangen, bevor sie zu viel ihrer Identität auf fragilem Schwachsinn aufbauen, der nur durch Aggression und vielleicht sogar Gewalt aufrecht erhalten werden kann.
Meiner Meinung nach sollten wir viel früher anfangen, irrationales Verhalten als solches zu beschreiben und versuchen Leute wieder auf den Pfad der Logik zurückzuführen.
Mein Standpunkt ist hier vielleicht etwas militant, aber ich bin fest davon überzeugt, dass Horoskope, Tarot-Karten, Homöopathie und alles andere, was grob gutmütig in "Spiritualität" eingeordnet wird, keine irrelevanten Hobbys sind, sondern der erste Fuß in der Tür zur Akzeptanz von irrationalem Schwachsinn. Erst denkt man, dass die Position von Planeten zum Zeitpunkt der Geburt das eigene Leben beeinflusst und dann zweifelt man plötzlich an der Kompetenz der gesamten Wissenschaft.
Ich muss jetzt natürlich erwähnen, dass das nicht allen Leuten so geht, dass es welche gibt, die das ganz toll trennen können, dass es für einige nur ein harmloses Hobby ist und man nicht alle über einen Kamm scheren kann. So funktioniert Diskurs in 2021: Alles wird relativiert, bis nichts mehr eine Bedeutung hat und alles so unscharf wurde, dass man nicht an Lösungen arbeiten kann, weil das Problem ungreifbar und nebelhaft wurde.
Tatsache ist aber, dass alle extreme Enden vermeintlich harmlose Anfänge hatten.
Mich überrascht kein bisschen, dass Nazis und Räucherkerzen schwingende Öko-Hippies sich seit knapp zwei Jahren auf Demonstrationen treffen und in glücklicher Gemeinsamkeit die gleichen Ansichten vertreten. Der Ursprung liegt in falsch aufgebauter Identität und mangelnder Rationalität. Ob wir dem merkwürdigen Onkel beim Weihnachtsessen sein Umvolkungs-Geschwafel durchgehen lassen oder der leicht merkwürdigen Tante freundlich zunicken, wenn sie mal wieder davon erzählt, dass ihre Chakren gestern gejuckt haben, was ein klarer Indikator dafür sei, dass ihre Tarotkarten im dritten Mond von Uranus Energien absondern: Es ist die gleiche Schublade von gefährlichem Blödsinn, der das rationale Fundament unserer geteilten Realität aufweicht.
Wer hat Schuld? Wir alle, befürchte ich. Wir akzeptieren und belächeln die Anfänge wissenschaftsfeindlicher Denkweisen und behandeln sie nicht als das, was sie irgendwann werden könnten. Wir hoffen aufs Beste und wurden mal wieder – wie so oft, wenn man optimistische Hoffnung als Lösung versteht – enttäuscht. Schade.