Fehlgeleitete Synapsenkraft
"Dumm" ist ein Wort aus meinem Wortschatz, welches unangemessen viel Anwendung findet. Das fiel mir im Laufe der letzten zwei Jahre auf, weil ich in einigen Gesprächen unter "Dummheit" einiges zusammenfasste, was damit vermutlich nicht zusammengefasst gehört und entsprechend zu Diskurs-Exkursionen führte, die wenig produktiv waren.
Kombiniert mit einer globalen Situation, in der Leute anscheinend von simplen Konzepten wie "Maske tragen", "Lüften", "Impfung abholen" und "Nein, Bill Gates will das Blut deiner Kinder nicht trinken" überfordert sind, dachte ich seitdem viel über Intelligenz nach und was sie wirklich ausmacht.
Impfgegner, Verschwörungstheoretiker, Fußballfans, Nazis, alles Gruppen, denen ich gerne "Dummheit" zuschreiben würde. Mangelnde Intelligenz als Begründung für irrationales Verhalten. Sie können es halt nicht besser.
Leider kenne ich sehr, sehr intelligente Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Faschisten.
Wie passt das zusammen?
Meine Theorie ist, dass sich vieles davon mit dem erklären lässt, was wir als "Nerd sein" bezeichnen. Intelligenz ist als messbare Instanz sowieso umstritten und mir persönlich hilft es eher, das dahinterliegende Konstrukt aus Synapsen und mentaler Aktivität als eine Kraft zu verstehen, die sich auf Themenbereiche fokussieren lässt. Ist ein dämlicher Begriff, aber für diesen Brief nenne ich das ganze mal "Synapsenkraft". Dann müssen wir uns nicht an rassistischen Intelligenztests und bestehenden Begrifflichkeiten aufhängen. Synapsenkraft. Jeder hat sie, nicht jeder nutzt sie klug.
Was die Gesellschaft klassisch als Nerds bezeichnet, sind Leute, die ihre Synapsenkraft auf Programmierung, Warhammer, Dungeons and Dragons und Videospiele fokussierten. Anhaltendes Interesse führt zu tiefem Sachverständnis eines komplexen Bereiches, der für andere undurchschaubar wirkt. Das Ergebnis ist, was wir als Intelligenz verstehen.
Jemand, der sich so sehr für Fußball begeistert, dass er jeden Spieler aus jeder Mannschaft der letzten 40 Jahre kennt, weiß, wohin er wann wechselte und wie viel Geld über den Tisch ging, fokussiert seine Synapsenkraft auf diesen Bereich. Auf überhebliche Tech-Nerds wie mich wirkt das vielleicht etwas dümmlich, aber letztendlich ist es ein hochkomplexes Thema, dessen Verständnis viel Synapsenkraft erfordert.
Fußballer und Fußballteams gibt es wirklich. Schwieriger ist anzuerkennen, dass das gleiche auf Informationen zutrifft, die faktisch unwahr sind. Querdenker, Verschwörungstheoretiker und alle anderen Gruppen, deren Venn-Diagramm häufig einen Kreis bilden, haben sich mit dem Fokus ihrer Synapsenkraft zwar verrannt, aber mussten trotzdem viel davon aufwenden, um überhaupt dazu in der Lage zu sein. Um all diese wild konstruierten "alternativen Fakten" zu verinnerlichen, muss man die theoretische Möglichkeit haben, hochkomplexe argumentative Abhängigkeiten nachzuvollziehen und in gefühlten Einklang zu bringen. Das ist nicht Dummheit, es ist das Gegenteil.
Leider macht diese Erkenntnis die Welt nicht simpler. In meinem Leben gibt/gab es Menschen, die ich als maximal intelligent bezeichnen würde. Alle gesellschaftlich klassischen Anzeichen für eine Person, die in einem dahingehend Minderwertigkeitskomplexe erzeugen könnte. Diese verfügbare Synapsenkraft wurde über die Jahre auch für viele konstruktive Dinge verwendet. Bis irgendein Auslöser irgendeine falsche Abbiegung dazu führte, dass Interesse und Fokus in die falsche Richtung geweckt wurde.
Für Leute mit viel Synapsenkraft sind komplexe Bereiche wie Honig für Bären. Man findet einen neuen Topf aus interessanten Informationen und spürt dieses elektrisierende Gefühl von unendlichen neuen Möglichkeiten und Erkenntnissen. Leuten wie uns macht Spaß, sich in Themen einzuarbeiten. Es bereitet einem gute Gefühle, neue Dinge zu verstehen. Leider sind unsere Gehirne nicht unbedingt in der Lage, dieses gute Gefühl von komplexen Themenbereichen zu trennen, die auf absolut keiner faktischen Grundlage beruhen. Es erzeugt die gleiche Ausschüttung irgendwelcher Dinge aus irgendwelchen Drüsen. Plötzlich ergibt es Sinn, dass man der gesamten Wissenschaft nicht trauen kann, weil es das Problem und die Verwebungen der Komplexität noch detaillierter macht. Man will, dass mehr Komplexität existiert.
Die echte Welt ist zwar komplex, aber Occam's Razor lässt einen oft auf simple tatsächliche Wahrheiten stoßen. Die unechte Welt, eine Welt, die ausgedacht ist und darauf basiert, dass jede vermeintliche Erklärung durch mehr — noch komplexeren — Irrsinn weggewischt wird, bietet unendliche Mengen von Honig.
Was bringt mir diese Erkenntnis? In erster Linie Frust, weil alle als dumm zu bezeichnen, die nicht auf der Hand liegenden Wahrheiten ins Gesicht blicken wollen, einfacher und befriedigender wäre. Allerdings ziehe ich eine gewisse beruhigende Wirkung aus der Erklärung.
Es sind nicht alle merkwürdig dumm.
Das klingt für mich wie eine komplexere und damit wahrscheinlich echtere Wahrheit. Ein falsch gesetzter Fokus von Synapsenkraft erklärt für mich jeden Aspekt an einem vorher unerklärlichen Verhalten. Das ist schön, weil ich jetzt diesen Leuten etwas weniger überheblich entgegentreten kann. Bin ich besser darin, meine Synapsenkraft in die richtige Richtung zu fokussieren? Ja. Bin ich deswegen unbedingt klüger? Nein.
Dass diese Leute irgendwie wieder auf den richtigen Pfad gebracht werden müssen, damit sie ihre Synapsenkraft für Themen aufwenden können, die der Gesellschaft helfen statt schaden, liegt auf der Hand. Think Again erklärt einem gut, warum es so schwer ist, diese Leute von ihren gefühlten Wahrheiten zu trennen. Vielleicht liegt ein Lösungsansatz darin, dass man ihre Synapsenkraft mit anderem Komplexitäts-Honig lockt, statt sie als Idioten abzuschreiben.