Empathische Demokratie
Inwiefern man sich über jede demokratische Partei und ihre Wähler freuen sollte.
Hallo Brieffreunde,
in zwei Wochen ist Bundestagswahl! Muss ich euch nicht erzählen, schließlich ist davon auszugehen, dass unter den Empfänger:innen dieser Zeilen niemand zu finden sein wird, der oder die sich nicht darüber freut wählen zu dürfen.
Nichtsdestotrotz habe ich in den letzten Monaten beobachtet, dass ein aggressiver Zynismus in eigentlich progressive Personengruppen eingezogen ist, der starke Ähnlichkeit mit demokratiefeindlichen Strömungen hat. Auch wenn es schwer zu akzeptieren ist, weil wir mit der Umweltkrise vor einem so eindeutig wichtigen Thema stehen, dass alle anderen zu verblassen scheinen, darf man sich nicht zu antidemokratischen Sichtweisen hinreißen lassen. Autoritäre Ansichten fangen da an, wo das Wohl der Menge nicht mehr von der Anzahl Wählern, sondern vermeintlich besserer Moral bestimmt wird.
Intelligente Gespräche über Politik enden, wenn jemand eindeutig demokratische Parteien als unwählbar betitelt und die Wähler:innen eben dieser Parteien als schlechtere Menschen betrachtet.
[Ich definiere demokratische Parteien anhand der Menge an Untersuchungen des Verfassungsschutzes der Partei und parteinahen Institutionen und demokratiefeindlichen Meinungen. Regelmäßige verfassungsfeindliche „Ausrutscher“ sind für mich ein relevanter Indikator für mangelnden Verfassungspatriotismus.]
Irgendwie haben wir uns als Gesellschaft in ein Miteinander befördert, in dem erfordert ist, dass man sich bei jeder Gelegenheit ein Team aussucht und ihm gegenüber absolute Loyalität zeigt. Wer keine klare, in wenig Zeichen erklärbare Stellung zu Themen hat, wird präventiv mit einer Extremform eines negativen Labels versehen. Akzeptierte Meinungen sind leicht verdauliche Meinungen. Das Beziehen klarer Stellung wird gefordert und belohnt und Klarheit definiert sich durch Teilbarkeit auf Social Media.
Als kollektive Opfer dieser Situation ist es dementsprechend für alle von uns schwer, die politische Welt nicht ebenso vereinfacht und latent demokratiefeindlich zu betrachten. Parlamentarische Politik umfasst nicht nur mehrere Teams, sondern pro Team auch noch ein Füllhorn an komplexen Meinungen zu noch komplexeren Themen. Um diese Welt navigieren zu können, braucht es zwei Dinge:
Empathisches Demokratieverständnis
Akzeptanz für das eigene Unwissen
Empathisches Demokratieverständnis erfordert, dass man sich als Demokrat:in, in die Schuhe anderer Wähler:innen versetzen möchte und versucht nachzuempfinden, warum jemand eine Partei, die einem selbst nicht passt, wählen wollen könnte ohne eine schlimme Person zu sein. Das ist eine schwierige Übung, keine Frage. Mir fällt das auch nicht leicht. Akzeptanz von Realität erfordert Verständnis von Komplexität. Man muss also, um in dieser Übung erfolgreich zu sein, akzeptieren, dass man offensichtlich etwas nicht so gut verstanden hat, wie es erforderlich wäre.
Es ist nicht schlimm zuzugeben, dass man etwas nicht weiß. Tatsächlich wissen die meisten Leute die meisten Sachen nicht. Das liegt in der Natur der Angelegenheit. Wahres Verständnis komplexer Sachverhalte startet mit der Fähigkeit, sein Unwissen zu akzeptieren. Blindes Vertrauen in die Richtigkeit von ständig wiederholten Floskeln sollte in dem Moment stoppen, in dem man sich dabei erwischt, dass man gar nicht so genau weiß, was es bedeutet, was man da gerade von sich gibt.
Die schiere Menge an möglichen Lebensrealitäten, die andere Demokrat:innen in ihrem Alltag erleben ist ist so enorm, dass niemand sie verinnerlichen kann. Es gibt keine wahrscheinliche Realität in der man selbst jede Emotion, jede Lebenssituation und jede Geschichte von jedem Wähler so gut kennt, dass man informiert und gut begründet deren Wahlentscheidung einzuschätzen vermag. Das zählt ganz besonders dann, wenn die Person eine Partei wählt, die man selbst nicht wählen würde. Confirmation Bias wirft einem dabei nicht zu verachtende Stöcker zwischen die Beine. Es ist dementsprechend sicherer anzunehmen, dass man etwas übersieht als anzunehmen, dass man ein endlos komplexes System völlig verstanden hat.
Empathische Demokrat:innen akzeptieren, dass im Leben anderer ein guter Grund existieren kann, warum sie eine Partei wählen wollen würden, die einen anderen inhaltlichen Fokus hat, als man sich wünschen würde. Wenn man wirklich denkt, dass die eigene Partei die beste Antwort für alle Leute ist, hat man nicht verstanden, inwiefern parlamentarische Demokratie ein fantastisches Werkzeug für komplexe Gesellschaften darstellt und hilft unbewusst mit sie zu untergraben. So was legt den Grundstein autoritärer Systeme.
Was ich sagen will: Wählt eure aktuelle Lieblingspartei und freut euch über jede andere Demokrat:in, die sich auch am demokratischen Prozess beteiligt. Eure Partei ist toll. Die anderen Parteien sind auf ihre Weise, für ihre Wähler toll. Seid empathisch und hütet euch vor einfachen Antworten und Floskeln. Zu entdecken, dass man die ganze Zeit einfach etwas nachplappert ist kein Grund zur Scham, sondern der Anfang einer Recherche, die zu mehr Wissen und stabileren Meinungen führt.
Ich muss euch allerdings warnen: Komplexere Meinungen passen nicht mehr so gut in Social Media Posts und sahnen weniger Likes ab. Dementsprechend hat alles seine Vor- und Nachteile und man kann entschieden, wie man damit umgehen möchte.
Demokratische Grüße
Marcel
Was ich wählen werde
Dieses Jahr werde ich im Bund Grüne und in Berlin Volt wählen. Erstere mehr als ein Zeichen statt als Bestätigung der Forderungen des Wahlprogramms. Ich glaube nicht, dass aktuell irgendeine Partei klar darüber spricht, was es erfordert, die Klimakatastrophe wirklich herumzureißen.
Für unangenehm klare Wahrheiten und frustrierend nachvollziehbare Berechnungen dazu, was es bedeutet, die Welt retten zu wollen, empfehle ich Bill Gates How to Avoid a Climate Disaster. Eigentlich las ich es, um zu diesem Thema optimistischer zu werden. Es hat allerdings das Gegenteil erreicht. Wenn man versucht, ein realistisches Bild der Situation zu bekommen, um mitreden zu können, kommt man an diesem Buch nicht vorbei. Wer noch denkt, dass man einen wertvollen Beitrag leistet, indem man von seinen Freunden Zustimmung bekommt, weil man für mehr Bäume und weniger SUVs ist, sollte dieses Buch lesen. Wie gesagt, komplexe Themen erfordern Mühe und Aufwand. Das hier ist ein guter Anfang.
Wahl-O-Mat
Der Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl bietet kaum jemandem Überraschungen. Alle erhalten ein Treppchen von Parteien, von denen sie sowieso schon grob wussten, wie sie angeordnet sein würden. Ich persönlich halte ihn für ein wichtiges Tool, das leider falsch gestaltet ist.
Irgendwo relativ vergraben, kann man zwar sehen, was die Meinungen und Argumente der einzelnen Parteien zu den jeweiligen Themen sind, allerdings denke ich, dass der Fokus falsch gesetzt wurde. Würde man die Meinungen aller Parteien zu allen Themen mehr in den Vordergrund setzen, könnte der Wahl-O-Mat ein gutes Werkzeug sein, um mehr empathische Demokrat:innen zu erzeugen. Zu sehen, dass andere Parteien, teilweise selbst die demokratiefeindlichen, manchmal auch gute und für einen selbst nachvollziehbare Argumente für ihre Meinungen haben, wäre hilfreich. Es würde die Grenzen verwischen und aufzeigen, dass Politik nicht fein säuberlich in Grüppchen mit nur richtigen und nur falschen Ansichten eingeteilt werden kann.
Mein Tipp ist also, dass ihr die Fragen noch mal ausfüllt und euch dann anschaut, was die Parteien zu sagen haben, von denen ihr eigentlich nichts haltet. Nicht um eure Meinung zu ändern, nur um besser informiert zu sein. Man kann immer etwas finden, das einen positiv überrascht. Wenn man das nicht tut, ist das ein guter Indikator dafür, dass man Politik etwas zu sehr als Teamsport betrachtet.
Eine Musikempfehlung
Damit dieser Brief nicht nur ganz kritisch daherkommt, hier ein hervorragender Song, den ich diese Woche entdeckte und seitdem sicher 200 Mal gehört habe: