200 Tage keine Nachrichten
Liebe Brieffreunde,
ich habe seit rund 200 Tagen keine Nachrichten mehr konsumiert. Weder schriftlich noch in irgendeiner anderen Form. Keine Videos, keine Podcasts, kein verzweifeltes Klopfen an der Tür des ARD Hauptstadtstudios um den aktuellen Stand der Koalitionsverhandlungen zu erfahren. Meine einzige Quelle für die erwähnenswerten Aktivitäten des Weltgeschehens sind Freunde, die mir davon erzählen oder Links in etwaige Gruppenchats werfen.
Das mag jetzt überraschen, wirke ich doch wie ein globalisierter Weltbürger mit dem Finger am Puls der Zeit und der anderen Hand an seinem dekorativen Gehstock. Stattdessen bin ich ein Informationseinsiedler, der irgendwann in der Pandemie gemerkt hat, dass ständige Informationen zur Pandemielage mir keinen Vorteil bringen. Lüften. Masken. Impfungen. Abstände. Verstanden und gelebt, keine weiteren Fragen. Das bedeutet auch, dass ich das Ende des Afghanistankrieges verpasst habe und nichts vom Wahlkampf mitbekam. Nichts davon hat mir geschadet. Ich würde sogar sagen, dass ich so viel weiß wie jede andere Person, lesen die meisten doch sowieso nur die Headlines. 30 Mal am Tag.
Als ich anfing, wusste ich nicht, wie lange ich das Ganze durchziehen will. Anfangs war es eine Lösung für das akut gefühlte Problem der Überinformation. Jetzt ist es einfach eine Art des Lebens. Der Post-It an dem ich meinen "Keine Nachrichten" Streak visuell sichtbar gemacht habe, ist fast voll und eigentlich brauche ich keine tägliche Erinnerung an mein Nachrichten-Fasten mehr. Wenn ich mich selbstkritisch frage, welche Vorteile ich durch meine Abstinenz verpasse, fallen mir keine ein. Die Nachteile sind klar: Mentale Belastung durch künstliche Aufregung und eine Timeline aus sich ständig ändernden Headlines, die mir ständig das Gefühl gibt, gecheckt werden zu müssen. Allerdings ändert mein Informationsstatus nichts am Ablauf der Koalitionsverhandlungen. Es ist also die Entscheidung zwischen ständigem darüber nachdenken ohne Einfluss auf das Ergebnis und mentale Kapazität, die für andere Gedanken genutzt werden kann. Keine wirklich schwere Frage. Ständige Informiertheit ist auch nur ein weiterer Auswuchs der Hustle-Culture, in der viel gemacht wird, aber wenig passiert.
Cal Newport wäre stolz auf mich. Tim Ferriss, dessen 4-Hour Work Week ich gerade lese, sicher auch. Er hat zum Erscheinen des Buches, das mittlerweile schon einige Jahre auf dem Buckel hat, auch schon seit geraumer Zeit keine Nachrichten mehr konsumiert und machte die gleichen Beobachtungen wie ich.
Wie sieht es mit eurem Nachrichtenkonsum aus? Habt ihr das Gefühl, dass ständige Updates euch tatsächlich etwas bringen, oder seid ihr — wie ich es war — nur im Sog der Gewohnheit gefangen?
Uninformierte Grüße aus der Versenkung
Marcel
Ein Update aus meiner selbst gebauten Fahrschule: Autofahren in der Stadt wird langsam zur Gewohnheit. Diesen Monat habe ich bereits 50 € bei Share Now gelassen, einige schwierige Situationen gemeistert und langsam das Gefühl, dass ich meine Teststrecke, die immerhin mitten durch Berlin Mitte geht, gut genug bestreite. Bald wird das Niveau angezogen und Neukölln und Kreuzberg befahren.
Wusstet ihr, dass Smart ForTwos ganz aggressiv piepen, wenn man in falschrum in eine Einbahnstraße fährt? Ich bis vor Kurzem auch nicht!
Weil ich mit James Bond das Kino-Pflaster von meiner pandemieförmigen Wunde riss, war ich gestern wieder im Kino. The French Dispatch, ein Film auf den ich mich seit Jahren gefreut habe. Als Person, die die Welt in erster Linie visuell genießt, sind Wes Andersons Filme für mich generell ein großes Vergnügen. The French Dispatch könnte für mich der beste Wes Anderson Film sein. Der Film ist wie eine zweistündige, visuell Spaß machende Kunstausstellung, durch die man sitzend geführt wird und dabei einen fantastischen Soundtrack und grandiose Dialoge hören darf.
Es gibt so viel zu sehen, dass ich ihn sicher noch 1-2 Mal sehen könnte und es danach weiterhin Details zu entdecken gäbe.
Meine Versenkung wurde übrigens weiter aufgeweicht. Ich entfolgte allen Leuten auf Twitter und fing an, wieder einzelne Tweets zu schreiben. Allerdings folge ich niemandem und binde mir damit keine Timeline ans Bein. Mehr dazu in einem der nächsten Briefe, ich habe nämlich Gedanken und Pläne.
xoxo